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Absolutes Gehör: das Für und das Wider

18 Jul 2014
   
 

Ear Note by Molly Germaine Ein Musikgehör ist ein geheimnisvolles und unerklärliches Phänomen. Zum ersten Mal kann man damit bei der Aufnahme an einer Musikschule konfrontiert werden. Um das Gehör zu testen, wird ein Kind gewöhnlich gebeten, eine auf dem Klavier gespielte Melodie nachzusingen. Manchmal wird auch verlangt, ein rhythmisches Muster zu wiederholen, ein bekanntes Lied zu singen oder alle Noten zu nennen.

Während „Musikgehör“ ein mehr oder weniger allgemein bekannter Begriff ist, gehört das „absolute Gehör“ meistens zum professionellen Musikbereich. Erstmals hörte ich diesen Begriff auf einer Prüfung an der Musikschule für hochbegabte Kinder. Folgendes passierte:

Der Prüfer, ein skeptischer Lehrer, bat mich, die gespielte Note zu nennen.

– Wie kann ich die Note nennen, wenn ich die Tonart nicht weiss?! –fragte ich, erstaunt.

– Sag einfach, was du denkst – antwortet der Lehrer.

– Hm… aber wie kann ich das wissen?! –denke ich bei mir und sage laut: - Vielleicht, E…

Während einiger Sekunden herrschte völlige Stille, nur die Wanduhr tickte über dem Klavier.

– Es, –der Prüfer sagt langsam und sieht mich aufmerksam an.

Das war das einzige Mal, dass ich diese besondere Aufmerksamkeit auf mich zog, die Kinder mit absolutem Gehör erregen. Warum das einzige Mal? Ich habe kein absolutes, sondern ein ganz gewöhnliches Ohr für Musik. Und die (fast) richtig genannte Note war nichts anderes als ein glücklicher Zufall.

Viele Wissenschaftler bezeichnen absolutes Gehör nur als eine angeborene Fähigkeit, sich die Töne „vorzustellen“ und ihre Höhe bestimmen zu können. Seltsamerweise kann diese Fähigkeit bereits von Geburt an unterschiedlich entwickelt werden. Zum Beispiel können einige nur die auf Klavier gespielten Noten oder nur die Noten der bestimmten Tonhöhe erkennen. Andere können die Tonalität verschiedenster Klangfarben hören, zum Beispiel, auf welcher Note die Tür knarrt oder die Biene summt. Aber in beiden Fällen ist diese hervorragende Begabung angeboren.

Meine Solfège-Klasse bestand aus 12 Studierenden, und alle, ausser mir und noch einem Jungen, hatten das absolute Gehör. Ich musste Melodiediktate „nach Gefühl“ schreiben: ich sang jede Note leise vor mich hin und zählte die nötigen Noten von den Stütztönen der Tonart ab. Während ich etwa acht Wiederholungen und 1-2 zusätzliche Verbesserungen brauchte, um alles richtig zu schreiben, waren 2-3 Wiedergaben für meine Mitschüler mehr als genug, auch wenn der Lehrer verbot, sich beim Spiel Notizen zu machen.

Camino del Lago del Valle von Ignorant WalkingAber jede Medaille hat nicht nur eine Seite. Ich habe eine interessante Besonderheit bemerkt: Kinder mit absolutem Gehör haben oft Schwierigkeiten mit der Musiktheorie. Es scheint einen Grund dafür zu geben: Stellen Sie sich vor, dass eine theoretische Vorbereitung ein langer Weg vom Fuss bis zum Gipfel eines Berges ist. Der Weg selbst ist das Erlernen von den theoretischen Grundlagen – Struktur und Verbindung von Intervallen und Akkorden, ihrer Rollen in der Tonart, usw. Die Erreichung des Gipfels bedeutet die richtige Lösung einer musikalischen Aufgabe, in unserem Fall – einen Melodiediktat richtig zu schreiben und Akkorde in einer harmonischen Reihe zu bestimmen. Wer die Theorie beherrscht, kann Töne in einem Musikstück mithilfe dieser Kenntnisse erkennen. Die Kinder mit dem absoluten Gehör müssen den ganzen Weg von Analyse bis zur Lösung gehen.

Man kann sie mit den Touristen vergleichen, die mit einem Hubschrauber den Gipfel erreichen, aber den Abstieg nicht selbstständig finden können. Oft konnte ich die folgende Situation beobachten: die einzelne Noten in einem Akkord erkannten Kinder mit absolutem Gehör ohne irgendeine Schwierigkeit, sie konnten aber ihre harmonische Funktionen nicht nennen. Und das ist leicht verständlich: warum sollen sie die Funktionen lernen, wenn sie die Noten bereits hören? Die Lehrer waren doch ganz anderer Ansicht und absolutes Gehör war kein Schutz gegen eine schlechte Note.

Ebenso wie Bergsteiger als Bonus nach dem Aufstieg gut trainierte Muskeln erhalten, wird der mit musikwissenschaftlichem Verständnis belohnt, der das Gehör entwickelt und Musikbeziehungen meistert, um eine Musikaufgabe lösen zu können.

Zum Schluss möchte ich mich an alle wenden, die ohne das absolute Gehör auskommen müssen: Im Leben ist es eigentlich nicht von Belang, wie viel Talent man mit der Geburt bekommen hat, sondern wie man dieses Talent entwickelt. Es gibt viele Wege den Gipfel zu erreichen – das wichtigste ist, den eigenen Weg zu finden und ihn zu verfolgen.

Fotos: "Ear Note" von Molly Germaine, "Camino del Lago del Valle" von Ignorant Walking. Quelle: Flickr.com

 
 
 
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